Taxiplatz am Hauptbahnhof um 2:07 Uhr.
Ich stehe als 6. in der Taxischlange. Ich beobachte, wie ein Mann mit seiner Familie im Schlepptau versucht ein Taxi zu kriegen. Er scheitert am ersten Kollegen, dann am zweiten, dritten, vierten…
Das ist ist kein gutes Zeichen – wenn so viele Kollegen eine Fahrt abweisen, gibt es wohl
gute Gründe dafür. Nach wenigen Minuten, kommt der Mann dann zu mir.
Er scheint ein Südländer zu sein, er spricht kein Wort deutsch und reicht mir einen Zettel auf dem in krakeliger Schrift eine Straße drauf steht – nur welche? Ich kann es nicht eindeutig entziffern: Steinstraße? Steinsetzerstraße? Steintor? Oder womöglich was ganz anderes? Ich versuche nachzufragen, doch weder deutsch, englisch, noch mein Schulfranzösisch scheinen mich der Antwort näher zu bringen. Dann zückt der Mann ein altes Handy, ruft jemanden an und reicht es mir. Die Person am anderen Ende kann englisch, dafür aber ist der Empfang und seine Aussprache umso schlechter. Ich weiß am Ende immer noch nicht so recht, wohin die Fahrt gehen soll. Ich tippe auf Steinsetzerstraße, das ist eigentlich eine lukrative Fahrt, ABER: Diese Straße liegt in einem Gewerbegebiet, was will dort eine Familie um 2 Uhr Nachts?
Ich entschließe mich diese Fahrt abzulehnen und erst jetzt sehe ich seine Frau und Kinder vor mir: Sie sind ärmlich gekleidet, haben zahlreiche Plastiktüten von ausländischen Supermärkten bei sich und die Kinder haben weder Schuhe und Socken an. Die Frau zittert, sie hat keine Jacke und ist für winterliche Verhältnisse nicht richtig angezogen. Ein Blick auf die Temperaturanzeige verrät mir, dass es 1 Grad ist. Verdammt, ich kann diese Familie doch nicht hier einfach so stehen lassen. Aber was wollen die in der Steinsetzerstraße? Da ist doch nichts? Das riecht förmlich nach Ärger und einer Fehlfahrt. Mittlerweile haben sich die anderen Kollegen in sicherer Entfernung zu mir positioniert, um wie die Geier auf der Stange alles mitkriegen zu können. Sie tuscheln über mich, ich bin mir sicher, dass schon gewettet wird, ob ich so blöd bin die Fahrt anzunehmen.
Ein letzter Blick auf die Familie: Sie scheinen müde zu sein, sie wollen offensichtlich einfach nur weg von hier. Scheiß drauf, ich öffne die Kofferklappe und wir laden Ihre Habseligkeiten ein.
Nach 15 Minuten kommen wir in der Steinsetzerstraße an: Ich schaue mich aufmerksam um, doch wie bereits befürchtet, ist das alles nur ein ausgestorbenes Gewerbegebiet. Ich hatte eigentlich gehofft, dass dort womöglich jemand wartet oder das sich hier irgendwas von alleine ergibt, bzw. das sich die Situation von alleine aufklärt. Doch am Ende bin nur ich und die Familie auf dieser verlassenen Straße. Wir fahren die Straße zwei mal auf und ab, doch es passiert nichts. Mittlerweile steht die Uhr auf 16,20 Euro und ich verfluche mich innerlich, diese Fahrt angenommen zu haben. Wie konnte ich nur so bescheuert sein, wie werde ich diese Familie jetzt los, muss ich am Ende die Polizei rufen und dann
noch weitere 30 Minuten warten, bis alle Formalitäten geklärt sind?
Wir fahren ein letztes mal die Straße ab und plötzlich ruft der Mann „STOP!“
Ich halte an, er springt raus und rennt auf ein Bürogebäude zu. Er hämmert dort gegen die Tür. Ich schalte Motor und Taxameter aus und folge Ihn. Zu meiner Überraschung öffnet jemand, ein uniformierter Nachtwächter. Der Mann redet auf Ihn ein, doch der Nachtwächter versteht kein Wort. Er fragt mich:
– Was will er?
– Ich habe keine Ahnung, ich habe Ihn und seine Familie im Taxi hergebracht und weiß auch nicht was das alles werden soll…
– …warten Sie einen Moment
Der Wächter verschwindet im Gebäude inneren und kehrt kurze Zeit später mit einem Kollegen zurück. Sein Kollege fragt: „arabian?“
Mein Fahrgast nickt erleichtert und es beginnt ein Gespräch auf arabisch. Erst jetzt betrachte ich dieses Bürogebäude genauer und mir fallen 2 Schilder auf. Auf dem einem steht „Außenstelle Bundesamt für Migration und Flüchtlinge“ und dem anderen „Zentrale Aufnahmestelle für Flüchtlinge“
Ich frage den Dolmetscher, was das ganze hier nun soll. Der Dolmetscher antwortet:
„Dieser Mann und seine Familie sind vor 2 Wochen aus Syrien geflüchtet, nachdem Ihr Haus zerstört wurde und sein Bruder von den Milizien ermordet wurde. Sie sind über die Türkei nach Europa gekommen und sind mit Zügen und Bussen nach Deutschland gekommen. Dann hat Ihn jemand nach Bremen, zu uns, geordert. Jetzt ist er hier und möchte einen Asylantrag stellen.“
Als sei das Wort Asylantrag ein Stichwort, beginnt der andere Nachtwächter die Einkaufstüten aus dem Kofferraum zu entladen. Offensichtlich ist die Fahrt hier tatsächlich zu ende und ich habe richtig getippt. Ich lasse den Dolmetscher nach meinem Fahrpreis fragen, woraufhin mein Fahrgast seine Geldbörse öffnet. Es ist nichts mehr drin. Ich ärgere mich: War ja klar, ich bin selbst schuld, ich hätte es schon am Bahnhof wissen müssen. Dann holt der Mann einen 20 Euroschein hervor. Es ist sein letzter Geldschein.
Vermutlich sein allerletztes Geld, nachdem er seine Heimat im Krieg verlassen musste, sein Bruder getötet wurde und er mit seiner Familie eine abenteuerliche 4000 Kilometer Reise zu uns genacht hat. Voller angst, erwischt zu werden und vor dem ungewissen Ausgang. Es ist schon verrückt … da bekomme ich dieses ganze Elend und die Flüchtlingsdiskussionen im Fernsehen und der Zeitung mit, aber das ist doch weit, weit weg in Syrien. Damit habe ich doch nichts zu tun, ich habe keinen Bezug dazu und
plötzlich mitten in der Nacht sitzen diese Menschen bei mir im Auto. Und jetzt soll ich noch Ihr letztes Geld annehmen?
Ich steige ins Taxi und schreibe „Fehlfahrt“ in meinen Fahrbericht.